10 Jahre im Voraus: KI kann Risiko für 1000 Krankheiten vorhersagen
«Delphi-2M» nennt sich das KI-Modell, das Erkrankungsrisiken für mehr als tausend Krankheiten voraussagen soll. Der intelligente Algorithmus mit zwei Millionen Parametern soll zudem bis zu 20 Jahre im Voraus prognostizieren, zu welchem Zeitpunkt man möglicherweise von diesen Krankheiten betroffen sein wird.
Das Entwicklerteam des European Molecular Biology Laboratory (EMBL), des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) und der Universität Kopenhagen, das seine Ergebnisse in der Fachzeitschrift Nature vorstellte, trainierte das generative KI-Tool mittels algorithmischer Konzepte, die denen grosser Sprachmodelle (LLMs) ähneln. Moritz Gerstung vom DKFZ erläutert dies in einer Pressemitteilung des Zentrums:
Vorhersehbare Muster
Zu diesen Ereignissen gehören medizinische Diagnosen, Faktoren wie Alter und Geschlecht sowie Lebensstilfaktoren, etwa Rauchen oder Übergewicht. Delphi-2M erkennt Muster in der Reihenfolge dieser Ereignisse und dem zeitlichen Abstand zwischen ihnen und berechnet daraus das künftige Erkrankungsrisiko – es schätzt die Wahrscheinlichkeit ein, ob und wann jemand Krankheiten wie Krebs, Diabetes, Herz- oder Atemwegserkrankungen entwickeln wird.
Wahrscheinlichkeiten, nicht Gewissheit
Wichtig ist allerdings, im Auge zu behalten, dass es sich dabei keineswegs um eine Gewissheit handelt. Delphi-2M liefert vielmehr eine Einschätzung der potenziellen Risiken, wie etwa Wettervorhersagen es tun. Das Schicksal einer bestimmten Person kann also nicht genau vorhergesagt werden, doch das Tool bietet gut kalibrierte Schätzungen darüber, wie wahrscheinlich bestimmte Erkrankungen in einem bestimmten Zeitraum auftreten werden.
Wie gross ist beispielsweise die Wahrscheinlichkeit, innerhalb des nächsten Jahres eine Herzkrankheit zu bekommen? Diese Risiken werden als Zeitraten ausgedrückt – ähnlich wie bei der Vorhersage einer Regenwahrscheinlichkeit von 70 Prozent am Wochenende. Kurzfristige Prognosen sind dabei in aller Regel präziser als langfristige Voraussagen.
Das Team entwickelte das Modell mithilfe von Daten aus zwei völlig getrennten Gesundheitssystemen: Zuerst wurde es an anonymisierten Patientendaten von 400'000 Teilnehmern aus der UK Biobank trainiert. Danach prüften die Forscher es mit Daten von 1,9 Millionen Personen aus dem dänischen nationalen Patientenregister. Es zeigte sich dabei, dass die berechneten Wahrscheinlichkeiten tatsächlich mit der erwarteten Häufigkeit auftraten.
Grenzen des Modells
Ebenso zeigten sich aber auch die Grenzen von Delphi-2M: Wie jedes KI-Modell widerspiegelt es die Daten, an denen es trainiert wurde. So sind etwa Gesundheitsereignisse im Kindes- und Jugendalter bei Delphi-2M unterrepräsentiert, ebenso übrigens jene für bestimmte ethnische Gruppen, denn die Trainingsdaten aus der UK Biobank stammen hauptsächlich von Personen im Alter von 40 bis 60 Jahren.
Delphi-2M funktioniert erwartungsgemäss am besten bei Erkrankungen mit klaren und konsistenten Verlaufsmustern wie bestimmten Krebsarten, Herzinfarkten oder Sepsis (einer Form der Blutvergiftung). Bei schwerer zu diagnostizierenden Erkrankungen – etwa psychischen Störungen oder schwangerschaftsbedingten Komplikationen – ist das Modell weniger zuverlässig, da diese stärker von unvorhersehbaren Lebensereignissen abhängen.
Eine wichtige Einschränkung, die auch die Eignung des Modells für die individuelle Risikoprognose schmälert, liegt darin, dass es keine individuellen Laborparameter einbezieht. Ewan Birney, stellvertretender Geschäftsführer des EMBL, räumt ein:
Die Prognose eines individuellen Krankheitsrisikos war jedoch gar nicht das eigentliche Ziel beim Training der KI. «Das Ziel ist viel breiter angelegt. Es handelt sich hier vor allem um Grundlagenforschung für das Gesundheitssystem», präzisiert Birney. «Es geht um strategische Planungen, wie wir etwa die Ausstattung von Kliniken gestalten, um sie optimal für zukünftige Entwicklungen vorzubereiten.»
Noch nicht bereit für klinischen Einsatz
Noch ist Delphi-2M nicht bereit für den klinischen Einsatz. Dieser wird, wenn überhaupt, erst in Jahren möglich sein, und bis dahin muss die KI noch ein umfangreiches Retraining anhand klinischer Datensätze durchlaufen. Hinzu kommen länderspezifische Zulassungsverfahren der Aufsichtsbehörden. Doch das Modell kann Wissenschaftler schon jetzt dabei unterstützen, besser zu verstehen, wie Krankheiten entstehen und fortschreiten. Birney geht davon aus, dass Patienten in einigen Jahren von diesem Tool profitieren können:
Ein festgestelltes Krankheitsrisiko ist allerdings noch keine Diagnose, sondern eben nur eine Vorhersage einer Wahrscheinlichkeit, dass diese Krankheit eintritt. Es besteht daher die Gefahr, dass sich Patienten aufgrund einer solchen KI-Prognose belastenden Verfahren unterziehen, die gar nicht notwendig wären – man spricht hier von «Überdiagnose» oder «Überbehandlung». Dieses Problem besteht auch bei traditionellen Methoden der Vorhersage von Krankheitsrisiken; bei KI-Modellen könnte freilich die Vorstellung das Problem verschärfen, dass diese objektiver und präziser seien.
Die Vorteile von Delphi-2M gegenüber bestehenden Tools – etwa der Qrisk-Methode zur Berechnung des Risikos für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall in den nächsten zehn Jahren – liegen gemäss Birney darin, dass man damit alle Krankheiten auf einmal und über einen langen Zeitraum hinweg betrachten könne. «Das ist etwas, was Modelle für einzelne Krankheiten nicht leisten können», sagt er.
«Unser KI-Modell ist ein Machbarkeitsnachweis, der zeigt, dass es möglich ist, viele langfristige Gesundheitsmuster zu erkennen und diese Informationen zu nutzen, um aussagekräftige Vorhersagen zu generieren», erklärt Birney. Es handle sich um einen grossen Schritt in Richtung personalisierter und präventiverer Ansätze in der Gesundheitsversorgung. (dhr)
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